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“BEYOND GROWTH” – JENSEITS VON GUT UND BÖSE

„Beyond Growth: Towards an new economic approach“ lautet der englische Titel  der OECD-Studie, die Mitte Februar 2021 in der deutschen Fassung anlässlich eines Webinars präsentiert wurde. Die OECD will mit der Studie das Wachstums-Narrativ neu definieren und die Wohlfahrt der Menschen ins Zentrum rücken, indem sie neue wirtschaftspolitische Ziele und Messinstrumente für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt definiert, ein neues Gerüst für die Wirtschaftsanalyse vorschlägt und neue wirtschaftspolitische Ansätze fordert.

Ein neues Wachstums-Narrativ ist aus vier Gründen notwendig: wegen des beschleunigten Klimawandels, des schnellen technischen Fortschritts, der marktbeherrschenden digitalen Plattformen und der neuen Globalisierungsmuster.

Vier Ziele bestimmen das neue Wachstums-Narrativ:

  1. Ökologische Nachhaltigkeit
  2. Steigendes Wohlbefinden für die Menschen
  3. Abnehmende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen sowie bei Benachteiligten Bevölkerungsgruppen
  4. Stärkung der Widerstandskraft des Systems, verstanden als die Fähigkeit von Volkswirtschaften, finanzielle, ökologische oder andere Schocks ohne katastrophale und systemweite Auswirkungen standzuhalten.

Die OECD verspricht, dass mit der Verfolgung dieser neuen Zielsetzungen die Länder eine ausgewogene wirtschaftliche und soziale Entwicklung erleben werden, mit besseren Ergebnissen für heutige und zukünftige Generationen. Der versprochene Erfolg ist aber nicht einfach mit schrittweisen Veränderungen der heute gängigen Strategien zu meistern. Vielmehr müssen die politisch Verantwortlichen einen Blick «Jenseits des Wachstums» werfen. Sie müssen sich insbesondere von der während der letzten 40 Jahre vorherrschenden

Neoklassischen Wirtschaftstheorie verabschieden.

Die Hauptrolle zur Erreichung der neuen Ziele spielt der Staat.

Der vorhandene Trend zu stärkeren staatlichen Eingriffen (unterstützt durch die OECD) auf dem Arbeitsmarkt, in der Regional- und Umweltpolitik sowie in der Geld- und Finanzpolitik genügt nicht, er geht zu wenig weit:

  • Der Staat muss durch den Service Public und durch prädistributive Massnahmen eine gerechtere und produktivere Wirtschaftsentwicklung fördern
  • Der Staat muss Finanzinstitutionen stärker regulieren, spekulative und unproduktive Finanzaktivitäten bestrafen
  • Der Staat muss eine aktive Innovations- und Industriepolitik im Sinne der vier neuen Ziele betreiben
  • Der Staat muss insgesamt mehr als nur Marktversagen korrigieren. Märkte müssen gestaltet werden (market shaping).

Für diese Rolle sind zusätzliche finanzielle Mittel erforderlich. Höhere Steuern und auch eine höhere Verschuldung sind kein Problem: «Auch wenn die Staatsverschuldung in vielen Ländern nach wie vor hoch ist, ist jetzt weithin anerkannt, dass staatliche Kreditaufnahmen für Investitionen, die das Wirtschaftswachstum ankurbeln (beispielsweise in Infrastruktur, Innovationen und öffentliche Dienste) tragbar sind, weil sie sich im Verlauf der Zeit bezahlt machen. Festzuhalten ist, dass viele staatliche Investitionen zur Unterstützung des Wachstums und der Schaffung von Arbeitsplätzen auch zu einem verbesserten individuellen Wohlbefinden sowie soziale Kohäsion und Solidarität beitragen werden.»

Lessons learned

  • Wie im Zitat exemplarisch ersichtlich, fördert staatliches Handeln vor allem Zielharmonien. Trade-offs gibt es praktisch nicht.
  • Eine hohe Staatsverschuldung ist – weithin anerkannt – kein Problem. Die mangelnde Wissenschaftlichkeit und der stark ideologisch gefärbte Charakter der Studie kommt in solchen versteckten und nicht belegten Wertungen wie «weithin» zum Ausdruck: So sind «Viele» 51 mal der gleichen Meinung wie die Verfasser der Studie, nur wenige (7 mal) sind dagegen anderer Meinung.
  • Im neuen Wachstums-Narrativ der OECD ist der Staat so unglaublich weise, dass das Wort Staatsversagen oder Politikversagen in der Studie nicht vorkommt, «Marktversagen» aber neun Mal.

Im erwähnten Webinar antwortete der Autor der Studie auf die Frage, warum die Probleme des Staatsversagens nicht diskutiert werden: «Oh, that’s an ideological question!» Das ist konsequent, denn das neue OECD-Wachstums-Narrativ ist «Jenseits von Gut und Böse».

 

Hans Jörg Moser studierte Wirtschaftspädagogik an der Universität St.Gallen und promovierte dort. Er war Hauptlehrer für Wirtschaft und Recht an der Kantonsschule am Burggraben St.Gallen. Zudem war er Lehrbeauftragter an der Universität St.Gallen und in der Erwachsenenbildung tätig. Seit 2014 ist er Projektleiter bei der ecopol ag, einem Beratungsunternehmen, welches Entscheidungsträger aus der Wirtschaft, der Politik und der Verwaltung in volkswirtschaftlichen und politischen Fragestellungen unterstützt.

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